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Inhalt:
1. Call for Papers
2. ARGUS. Ein neuer Arbeitskreis stellt sich vor


1. Call for Papers


Für die erste Tagung des Arbeitskreises "Argus"
"Invention of Tradition - Invention of Innovation"
(Tagung, Dresden, 26.- 28. September 2004)


"Invention of Tradition - Invention of Innovation" ist die erste Tagung des Arbeitskreises ARGUS, der in den kommenden drei Jahren zum Thema "Kontinuitäten und Brüche: Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit" mehrere Veranstaltungen anbieten wird (Informationen zum Arbeitskreis siehe unten). Im Mittelpunkt steht diesmal die Frage, nach welchen Mustern Ereignisse, Handlungen, Gebräuche, Gegenstände, Kommunikationsformen etc. im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als "neue" oder "alte" Phänomene eingestuft und wie solche Zuschreibungen in der nachfolgenden historiographischen Rezeption fortgeführt bzw. umgewertet werden.
"Invention of Tradition" ist ein Begriff, der (auch jenseits seiner starken geschichtswissenschaftlichen Fixierung auf die Bildung nationaler Identität) seit längerem in den Geisteswissenschaften eingeführt ist und die kulturelle Praxis bezeichnet, diverse Angelegenheiten mit erfundenen Traditionen auszustatten, meist zu Zwecken der Geltungsbehauptung und der Legitimation. Auch Kontingenzbewältigung durch typologische Systeme, in denen das Unerwartete auf Präfigurationen zurückgeführt wird, ist unter diesen Begriff zu fassen. Ob etwas neu oder alt ist, liegt nicht in den jeweiligen Phänomenen selbst begründet, sondern ist Resultat von Markierungen und Wahrnehmungsweisen, von konstruktiver Arbeit und interessengeleiteter Zuschreibung. Deshalb soll neben "invention of tradition" auch ein Konzept "invention of innovation" zu einer Befragung der Konstruktionen von "Neuheit" hinsichtlich ihrer Genese und der sich darin manifestierenden Geltungsbehauptungen und Legitimationsstrategien erprobt werden.

Erwünscht sind Beiträge aus allen Disziplinen, in denen man sich durch die Thematik im Bereich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit angesprochen fühlt, zu folgendem Spektrum:

- in Mittelalter und Früher Neuzeit relevante Traditions- und Innovationsbehauptungen
- Wissenschaftsgeschichte: Traditions- und Innovationserfindungen bei Epochalisierung und Periodisierung des Wandels in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen
- Theorie zur Wahrnehmung des Neuen sowie zur Funktionalisierung von "Tradition" und "Innovation"

Die Tagung dient einerseits einer ersten methodischen Orientierung und Standortbestimmung für den Arbeitskreis ARGUS, wendet sich aber auch an diejenigen WissenschaftlerInnen aus den Geschichtswissenschaften, der Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte, Volkskunde etc., die sich ausschließlich für das Thema der Tagung interessieren.

Vorschläge (Abstracts von nicht mehr als zwei Seiten) werden erbeten bis zum 31.3.2004, mit der Post oder per Mail an die Organisatoren des Arbeitskreises. (siehe unten).

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Dresdner Tagung 2004

ein Tagungsbericht bei H-Soz-u-Kult von Heike Schlie

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2. ARGUS. Ein neuer Arbeitskreis stellt sich vor

„Brüche und Kontinuitäten: Vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit“ (2004-2007)

Ziele und Anliegen

ARGUS strebt an, den wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Bereich der Mediävistik und der Forschung zur Frühen Neuzeit aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu versammeln und ins wissenschaftliche Gespräch zu bringen. Angedacht ist dabei die Organisation von Begegnungen, bei denen innerhalb von Werkstattgesprächen und Tagungen bestimmte Themen unter verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden sollen, für die ein dringender interdisziplinärer Nachfragebedarf festgestellt werden kann. Der Arbeitskreis dient der Förderung des interdisziplinären Austausches in doppelter Funktion. Zum einen sollen für die Teilnehmer der Tagungen und Werkstattgespräche kritische Impulse für die eigene wissenschaftliche Arbeit bereitgestellt werden, andererseits soll ihnen ein Forum geboten werden, Ergebnisse und Hypothesen eigener Forschungsprojekte mit Beobachtungen von Nachbardisziplinen zu vergleichen und enger zu vernetzen. Die anzuvisierenden Themenstellungen werden dabei hinlänglich abstrakt formuliert, die Einzelbeiträge sollen „Bodenproben“ der Fächer kommunizieren und konfrontieren. Verglichen werden sollen dabei jeweils die Perspektiven, welche die Einzelfächer den als Problemvorgabe projektierten Themen unterziehen.  Für diese gemeinsame Form der Sichtung eines Themas „mit vielen Augen“ und der Bildung eines Netzwerkes der Beobachtung aus verschiedenen Perspektiven steht der gewählte Name des Arbeitskreises programmatisch.

Zum Rahmenthema: Brüche und Kontinuitäten: Vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit

Problemaufriß

Daß um 1500 etwas Neues beginnt, gewinnt seine Plausibilität aus Befunden, die dem Gegenstandsbereich verschiedener Disziplinen zugehören.  Mit dieser Zeit verbunden sind technikgeschichtliche Innovationen und neues know-how (Gutenbergpresse, Zentralperspektive, Waffentechnik), religionsgeschichtliche Umstrukturierungen (Protestantismus), die Entdeckung der Neuen Welt. Bemerkbar machen sich ein anderes und anders artikuliertes Verhältnis zur Antike, ein massiver Abbau von Wissensgrenzen und Tabus (Legitimität theoretischer Neugierde, Obduktion des menschlichen Körpers in der Medizin), gewichtige kulturelle Innovationen und ökonomische Umschichtungen, wie sie in der neuen Rolle des Geldverkehrs, im sog. frühneuzeitlichen Kapitalismus sichtbar werden, schließlich auch ein massiver sprachgeschichtlicher Wandel, der nicht zuletzt in der neuen Bibelübersetzung Luthers belegt werden kann. Angesichts der simultanen Emergenz von so viel Neuem scheint zunächst die Annahme einer neuen Epoche gerechtfertigt. Dennoch stellen sich bei der Betrachtung einzelner Phänomene erstaunliche Kontinuitäten ein. So geht beispielsweise das Phänomen spätmittelalterlicher Laienfrömmigkeit nahezu bruchlos in die Neuzeit über, [1] Luthers Bibelübersetzung führt einen Diskurs und Praktiken mittelalterlicher Übersetzungstätigkeit fort, die Entwicklung der Druckerpresse wäre unmöglich gewesen ohne entscheidende Veränderungen um 1150, die – wie Ivan Illich gezeigt hat – aus einer Partitur für fromme Murmler eine Buchseite mit optisch planmäßig gebauten Text machten. [2]   Die technikgeschichtliche Entwicklung des Mittelalters ist durch zahlreiche Innovationen gekenzeichnet, die in einem Kontext und Klima der Aufwertung von „Arbeit“ gegenüber dem Altertum ermöglicht werden, [3] was seinerseits wiederum im Vorfeld jener Aufkunft des modernen protestantischen Arbeitsethos zu situieren wäre, die Max Weber dargelegt hat. Columbus suchte das irdische Paradies der Alexanderviten und Brandanfahrten und schließt so an Projekte mittelalterlichen Weltwissens und literarischer Phantasie an. [4]   Auch die Antikenrezeption wurde im Mittelalter keineswegs eingestellt.  So arbeitet z. B. die thomistische Theologie Maßstäbe vorchristlicher Philosophie auf und in die eigene Systematik ein.  Die Antikenrezeption auch im Rahmen der politische Philosophie des Mittelalters ermöglichte vielmehr erst moderne Gesten und Polemiken wie z. B. jene Petrarcas, der dem „Mittelalter“ die Ungültigkeit der translatio imperii und translatio studii bescheinigte und sich erst so – bei gleichzeitiger Modelung eines „finsteren“ mittleren Alters ‑ als authentischer Fortführer der Antike inszenieren konnte. [5]

Es gibt zunächst im Grunde genommen nichts Selbstverständlicheres als ein solches Ineinander von Brüchen und Kontinuitäten im Prozeß geschichtlichen Wandels. [6] Dies ist immer wieder auch Anlaß für Relativierungen starrer Epochengrenzen; ihre Aufweichung auf „Epochenschwellen“ hin liegt somit nahe ebenso wie Revisionen der epochalen Chrakteristiken. So wird in manchen Gebieten geisteswissenschaftlicher Disziplinen postuliert, der Umbruch um 1200 sei entscheidender gewesen als der um 1500 [7] . Auch in begrifflichen Prägungen wie „Karolingische Renaissance“ oder auch „Medieval Humanism“ (Stephen Jaeger) äußern sich Revisionen des Epochenbruchs.

Der Epochengrenzen werden von allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen behandelt und verwaltet. Dies betrifft sowohl Aspekte ihrer Gegenstände als auch ihrer Fachgeschichte.  Die in den jeweiligen Einzelfächern auftretenden Verschränkungen von Kontinuitäten und Brüchen stellen dabei kein Problem dar: sie sind zu beschreiben in ihrem Wechselspiel von Freisetzung des Neuem, Integration in die Selbstbeschreibungsmodelle von Zeitgenossen, Figuren der Durchsetzung, Anerkennung und Perhorreszierung, Rolle von Traditionsüberhängen und deren Umfunktionalisierung etc.  Probleme bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Relevanz von Epochenumbrüchen kommen gerade im interdisziplinären Zusammenhang auf. Einerseits können nur auf der Grundlage interdisziplinären Abgleichs plausible und tragfähige Epochenbegriffe entwickelt werden. Da nun andererseits die verschiedenen Fächer auch mit unterschiedlichen Periodisierungen ihrer Gegenstandsbereiche arbeiten, [8] ergeben sich bei der Diskussion fächerübergreifender Epochenbegriffe Ungleichzeitigkeiten, bei deren Bearbeitungsversuchen im Zusammenspiel der Disziplinen sich oft neue Probleme einstellen, die benennbar sind als a) das Problem generalisierender geschichtsphilosophischer Denkfiguren, b) als Problem der Konstruktion von kulturellen Dominanten des Epochenbruchs.  Hinzu kommt c) das Problem der Differenzierung von Ereignisgeschichte und Deutungsgeschichte, ein Problem, das sich innerhalb der Geschichtswissenschaft selbst, oft aber auch in Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaften mit den Philologien und der Kunstgeschichte einstellt.  Diese drei Probleme seien im Folgenden umrissen, aus ihnen seien dann in einem weiteren Schritt einige methodische Konsequenzen für die Arbeit von ARGUS abgeleitet.

Zu a) Das Problem generalisierender geschichtsphilosophischer Denkfiguren

Es handelt sich hierbei um Thesen, die Phänomene des Mittelalters mit Phänomenen der Neuzeit über die Behauptung einer Entwicklungslinie verbinden. Nach 1945 waren diesbezüglich in Deutschland – um ein weites Feld nur anzudeuten – insbesondere historische Säkularisationsbefunde prominent, [9] denen Hans Blumenberg seinerzeit mit einer virtuosen Kritik ihrer Devianz- und Ableitungsimplikationen begegnete. [10] Blumenberg wies unter anderem auf das Problem des ausstehenden „Identitätsnachweises des Säkularisierten mit dem Säkularisat“ hin, sein Insistieren auf der Legitimität neuzeitlicher Selbstbehauptung verdankt sich der Freilegung der unangemessenen Implikationen des geschichtklitternden Säkularisationstheorems.  Prinzipiell treffen viele der Einwände Blumenbergs auch noch auf eine These zunehmender Zivilisierungsgewinne zu, wie sie Norbert Elias vertrat.  Sind hier alte Entzauberungserwartungen an den Epochenwechsel gewissermaßen zu Erfolgserwartungen bezüglich einer progredierenden Kulturation umgewertet, so besteht doch auch hier die Gefahr, zugunsten von vorgeblichen epochalen Großtendenzen Komplexität und Differenziertheit historischer Prozesse unterzubestimmen. Sind auch Elias’ Thesen gerade unter diesem Gesichtspunkt nachdrücklich kritisiert worden, so begegnen doch analoge Argumentationsfiguren in den Kultur- und Geisteswissenschaften immer wieder.  Man könnte sie zusammenfassend als Argumente des „von x zu y“ bezeichnen. Ob es sich um eine zunehmende „Privatisierung“ vormals vorgeblich öffentlich gewesener Kommunikationsformen handle, die Freisetzung theoretischer Neugier aus vormals im Korsett christlicher Metaphysik gefangenen Wissenschaften, um eine zunehmende „Autonomie“ vormals heteronom bestimmter Kunst, um einen zunehmenden Abstraktionsgrad z. B. politischer Prozesse und Instanzen – hier sollte ein kritischer Vorbehalt wach werden, der sich nicht nur aus einer generellen postmodernen Skepsis gegenüber „großen Erzählungen“ ergibt, sondern auch aus einem Wissen um die Unberechenbarkeit des historischen Materials.  Skeptisch sollte dabei auch der Faktor der Wertung stimmen, der mit den angedeuteten teleologischen Modellen explizit oder implizit immer gegeben ist.  Jedes „schon“ und jedes „noch nicht“ birgt durch die axiologische Orientierung an der Moderne eine Valorisierung dessen, was „schon da“ ist bzw. was „noch“ fehlt.  Diese evaluative Komponente blockiert bereits im Ansatz die Wahrnehmbarkeit vormoderner Alterität gerade dort, wo es darum geht, die Facetten ihrer Modifizierung auf eine moderne Welt hin präzise zu beobachten.

Einen Sonderfall stellt Niklas Luhmanns These zur Rolle von Epochenbegriffen innerhalb eines Ausdifferenzierungsprozesses der Gesellschaft dahingehend dar, daß Luhmann einerseits einen langfristigen epochalen Umbruch zwischen verschiedenen Gesellschaftsformen ansetzt, andererseits aber Epochenbegriffe auf der Ebene der Selbstbeschreibungen dieser Gesellschaft situiert.  Nach Luhmann sind es „evolutionäre Errungenschaften“ [11] (wie z. B. Landwirtschaft, Medienrevolutionen, Atombomben etc.), die gesellschaftlichen Wandel hervorbringen – insbesondere, wenn es „evolutionäre Errungenschaften mit hohem Zentralisierungsgrad“ sind, d. h. Errungenschaften mit denen vieles zusammenhängt. [12]   Da nun das Aufkommen solcher Errungenschaften keinem kontinuierlichen Tempo folgt, empfiehlt es sich zur Beschreibung dieser auf Epochenbegriffe zurückzugreifen.  Diese gehören zum Arsenal gesellschaftlicher Selbstbeschreibungsmodelle und kommen insbesondere dort zur Anwendung, wo sich Gesellschaft als historische versteht.  Solche Selbstbeschreibungsmodelle sind nach Luhmann in strukturellen Anhaltspunkten der Evolution von Gesellschaft begründet und ausgestattet mit einer (komplexitätsreduzierenden) Tendenz zur Selbstsimplifizierung. Errungenschaften von besonders hohem Zentralisierungsgrad können als die Dominanten geschichtlichen Wandels gelten.  Luhmann erprobt die These, dergemäß Medienrevolutionen die Evolution von Gesellschaft vorgeben, privilegiert aber letztlich die gesellschaftliche Ausdifferenzierung als Generator des Wandels.  So betrachtet vollzieht sich vom 12. bis zum 18. Jahrhundert der Übergang zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft.  Die Abstimmung historischer Prozesse auf gesellschaftliche Differenzierung ist vor dem Hintergrund des Projekts einer Theorie der Gesellschaft – dem zentrale Anliegen von Luhmanns Soziologie – sinnvoll und aufschlußreich, als Vorlage für mikrohistorische Studien freilich unbrauchbar (sollen diese nicht permanent den Befund des Übergangs selbst illustrieren).  Freilich markiert Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Status von Epochenbegriffen im Selbstbeschreibungshaushalt der Gesellschaft einige Probleme, denen eine avancierte Auseinandersetzung mit Epochenbrüchen nicht ausweichen kann.

b) Problem der kulturellen Dominanten des Wandels

Luhmanns Frage, ob Medienrevolutionen oder gesellschaftliche Ausdifferenzierung „als vorrangige, alles andere magnetisierende Epocheneinteilungen“ [13] anzunehmen seien, stellt eine von vielen Varianten der Behauptung und Setzung von Dominanten historischen Wandels in verschiedenen Disziplinen dar. Die damit beanspruchten Erklärungsleistungen konstituieren mitunter in den Geistes- und Kulturwissenschaften die Methoden: Ob es die Ideen sind, die Ökonomie, die Sozialstruktur, die Entwicklung des Wissens, Diskursmechanismen oder Medienwechsel – Methoden bestimmen sich immer auch durch eine Implikation hinsichtlich der für den historischen Wandel zentralen Instanzen. Gerade auch bei der interdisziplinären Arbeit an den Epochenschwellen ist es nicht erstaunlich, daß verschiedene kulturelle Dominanten des Wandels erprobt werden, da die Einzeldisziplinen ihrem Gegenstandsbereich naturgemäß eine diesbezügliche Relevanz einräumen. In Erinnerung zu behalten ist dabei aber, daß geschichtliche Prozesse so komplex und mannigfaltig, daß Wandel so überdeterminiert ist, daß eine Behauptung überhistorischer Dominanten immer schon in das Zwielicht eines unsachgemäßen Reduktionismus gerät.  Gerhard von Graevenitz hat in seiner Untersuchung zur Historizität des Mythos Grundsätzliches über die Verlaufsbedingungen von Kulturhistorie geäußert:

Die Entwicklungen der mentalen Strukturen verlaufen auf verschiedenen Ebenen nach verschiedenen Gesetzen. Die Vorstellung ist aufzugeben, daß die Geschichte der Bilder, der literarischen Formeln und ihrer Publikums­bedingungen analog verlaufe zur politischen Entwicklung, gesteuert von irgendwelchen einlinigen Widerspiegelungs- oder Homologiegesetzen. Selbstverständlich sind die Beziehungen und Wechselwirkungen solcher verschiedener Schichten ein wesentlicher Bestandteil des kulturhistorischen Kontinuums. Doch nicht eine Ebene dieses Kontinuums, weder die philosophie- noch die sozial- oder die politikgeschichtliche Ebene geben das Tempo, das Ziel der Gesamtentwicklung vor. Vielmehr hat jede dieser Ebenen ihre eigene Geschichte und die ihres speziellen Zusammenhangs mit dem Gesamtkontinuum. [14]

Das Kontinuum der Kultur, das keine Teleologie der philosophischen, politischen und – zu ergänzen wäre – auch keine der technischen Vernunft kennt, [15] zeigt sich nach Graevenitz als „die Gemengelage unterschiedlich fortschreitender oder beharrender mentaler Formationen“. [16]   Dies schließt nun nicht aus, daß innerhalb lokal und periodisch begrenzter historischer Situationen bestimmte gesellschaftliche Sektoren und Momente eine dominante Rolle spielen und zentralisierend wirken, übergeschichtlichen Annahmen hierzu freilich ist mit Skepsis zu begegnen.

c) Differenz von Ereignisgeschichte und Deutungsgeschichte

Die Deutungen und Selbstbeschreibungen historischer Gesellschaften sind – so angemessen oder unangemessen sie auch sein mögen – unlösbar mit den historischen Ereignissen verwoben. Alle Versuche, eine Ereignisgeschichte von einer Deutungsgeschichte mittels hinreichender Kriterien zu differenzieren, dürfen als äußerst problematisch gelten.  Hinzu kommt das Problem differierender Deutungshorizonte auf der Gegenstandsebene des historischen Forschens und auf der Beobachtungsebene. Daß man „Geschichte zwangsläufig im Rahmen von Kategorien denken muß, die der eigenen Gesellschaft und der eigenen Epoche angehören und die selbst ein Produkt der geschichtlichen Entwicklungen sind“ einerseits, daß man andererseits „Geschichte im Kontext einer praktischen Absicht oder eines Entwurfs zu denken hat, der selbst Teil der Geschichte ist“ [17] – dies ist, wie Cornelius Castoriadis und andere zeigten, nicht ein vermeidbarer Betriebsunfall historischen Forschens, sondern Bedingung der Möglichkeit für Geschichtsschreibung. [18]

Luhmanns These, daß Epochenbegriffe mehr oder minder komplexe Selbstbeschreibungsmodelle von Gesellschaft sind, hat eine für uns bedeutende Implikation: mit einer Differenzierung der historischen Fragestellung gehen somit Komplexitätsgewinne gesellschaftlicher Selbstbeschreibung einher.  Dafür kennt die empirische Forschung aufschlußreiche Beispiele. So schärft beispielsweise die gegenwärtig mögliche Beobachtung zunehmender Überwachung öffentlicher Plätze (die einem Sicherheitsinteresse der Gesellschaft angeblich entgegenkommen soll), spürbarer Verschiebungen der Schamgrenze in den Individuen und einer zunehmenden Virtuosität der Einzelnen im technischen Umgang mit Massenmedien die Beobachtung auch der historischen Verfaßtheit des sogenannten Privaten und Öffentlichen in vormodernen Gesellschaften auf der Schwelle zur Frühen Neuzeit. [19] Was sich bei der historischen Forschung als Problem resp. Gewinn von unfreiwilligen oder gezielt anvisierten Übertragungen beobachten läßt, gestaltet sich unter der Prämisse einer Selbstbeschreibung von Gesellschaft unter Umständen als Komplexitätsgewinn bei der Beobachtung fremder Kulturen einerseits aber auch – damit einhergehend – bei gesellschaftlicher Selbstbeobachtung andererseits. Reflexion über „historische Abstände“ hinweg gestaltet sich so als Verfremdungstechnik des Eigenen, des Bekannten und aktuell gegebenen. Gerade auch in Zeiten der Simplifizierung gesellschaftlicher Sinnbildungs- und Selbstdeutungsmuster kann historische Reflexion mit solcher Insistenz ein Bewußtsein für Dialektik, Kontingenz und Relativität geschichtlicher Prozesse wachhalten, das vor blindem „Gegenwartsdenken“ ebenso schützt wie vor einer gleichermaßen blinden Orientierung auf Zukunft. [20]

Konsequenzen

Aus den dargelegten Problemen ergeben sich für ARGUS einige Grundsätze in der Gestaltung der interdisziplinären Zusammenarbeit, die hier aufgeführt seien. 

a) Verzicht auf starre Epochenbegriffe und ihre klassifizierende Verwendung [noch mittelalterlich, schon frühneuzeitlich] zugunsten von dynamisierten, pluralisierten und historisierten Begrifflichkeiten

b) Abstinenz von der Setzung genereller kultureller Dominanten und von der Diskussion ihrer jeweiligen Priorität oder ihres Abgeleitetseins. Fokus auf über- und unterdeterminierte historische Situationen und Prozesse.

c) gezielte Arbeit an und mit dem Interferenzbereich zwischen den Selbstbeschreibungen einer Kultur und den Zuschreibungen über historische Abstände hinweg. Reflexion und Fruchtbarmachen dieser differenten aber aufeinander zu beziehenden Beobachterperspektiven.

Mit dem Thema der ersten Tagung (Invention Tradition – Invention of Innovation), die als Standortbestimmung insbesondere Punkt c) fokussiert, soll am historischen Material ein Konzept erprobt werden, das spannungsreich sowohl auf der Objekt- als auch auf der Metaebene historischer Auseinandersetzung zur Anwendung kommen kann.  Mit den Begriffen der Traditionserfindung und der Innovationserfindung läßt sich sowohl historische Praxis als auch Praxis historischer Forschung beschreiben und behandeln. [siehe Tagungsexposé].  Die Begrifflichkeit unterläuft epochale Differenzmarkierungen und eignet doch zugleich, diese neu in den Blick zu bekommen.

Organisationsformen: Werkstattgespräche und Tagungen

ARGUS strebt jährlich zwei Veranstaltungen an, ein Arbeitstreffen im Frühjahr (erstmalig 2005), das weitestgehend den Mitgliedern des Arbeitskreises selbst und damit dem Nachwuchs im strengeren Sinne vorbehalten ist, und eine Tagung im September, die öffentlich ausgeschrieben wird und sich nicht ausschließlich an den Nachwuchs richtet. Das Programm der Tagungen wird ab 2005 auf den Arbeitstreffen erstellt. Die erste Tagung unter dem Titel „Invention of Tradition ‑ Invention of Innovation“, die von Heike Schlie (Kunstgeschichte) und Tobias Bulang (germanistische Mediävistik) organisiert wird, ist zugleich als konstituierende Begegnung von ARGUS gedacht, auf welcher der zur Zeit noch lose Gesprächs- und Arbeitszusammenhang weiter stabilisiert werden soll.

Die Begegnungen sollen an verschiedenen Orten stattfinden und von verschiedenen Teilnehmern organisiert werden.  Themen, Orte und Organisatoren weiterer Zusammenkünfte sind jeweils am Ende einer jeden Tagung qua Abstimmung zu entscheiden. Die Themenwahl sollte dabei jeweils aus bei den Zusammenkünften neu aufgekommenen Problemfeldern hervorgehen.  Über das folgende Tagungsthema wird jeweils zum Abschluß eines Arbeitstreffens bzw. einer Tagung diskutiert und abgestimmt.

Die Zweigleisigkeit der Organisation hat das Ziel einer doppelschichtigen Netzwerkbildung. Das „innere“ Netzwerk des eigentlichen Arbeitskreises dient einem kontinuierlichen  Austausch und der Verfolgung der oben in der Einleitung genannten gemeinsamen Zielen. Die öffentlichen Tagungen bieten Gelegenheit, die Arbeit des Kreises einer größeren, interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen, weitere wissenschaftliche Verknüpfungen zu erstellen und die Anschlußfähigkeit der Ergebnisse zu überprüfen.

Copyright Köln, 27. Mai 2005

Webmaster: Dr. Stephan Hoppe email@stephan-hoppe.de



[1]    Vgl. Karl Stackmann/ Ludger Grenzmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Mittelalter und in der Reformationmszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981.  Stuttgart 1984.

[2]    Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalion“. Aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch. Frankfurt am Main 1991.

[3]    Lynn White jr.: Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft. München 1968; Udo Krozlik: Zur theologischen Legitimierung von Innovationen vom 12.-16. Jahrhundert. In: Innovation und Originalität. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 35-52

[4]    Vgl. Horst Wenzel (Hg.): Gutenberg und die Neue Welt. München 1994.

[5]    Vgl. Karlheinz Stierle: Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs. Darmstadt 1998; ders.: Francesco Petrarca: Ein Intelektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München u. a. 2003.

[6]    So bereits Huizinga: Das Problem der Renaissance. Renaissance und Realismus. Tübingen 1953, S. 53.

[7]    Siehe beispielsweise Hans Werner Goetz: Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters. In: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, S. 163-172, hier S. 168f.)

[8]    Vgl. Christian Kiening: Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002) H. 3, S. 264-277; hier S. 265

[9]    Vgl. insbesondere und als Auslöser für eine Debatte Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Suttgart 1953.

[10] Der Begriff der Säkularisation, so Blumenberg, komme zur Anwendung um „Verluste“ geschichtlicher Fülle zu diagnostizieren: „Dabei gibt die Orientierung an der Hintergrundmetaphorik des Rechtsaktes den Merkmalskatalog des Enteignungsverfahrens als Leitfaden für den Anwendungsbereich der Kategorie Säkularisierung:  Identifizierbarkeit des enteigneten Gutes, Legitimität des primären Eigentums an ihm und Einseitigkeit seines Entzuges.“; Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe Frankfurt a. M. 21988, S. 32.

[11] Vgl. auch Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 505-516.

[12] Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie.  in: Hans-Ulrich Gumbrecht/ Ursula Link-Heer (Hgg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Sprach- und Literaturtheorie.  Frankfurt a. M. 1985, S. 11-33.

[13] Ebd., S. 21.

[14]   Gerhard von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, S. 207, S. 209-235.

[15] Vgl. hierzu insbesondere die Argumente von Cornelius Castoriadis gegen den marxistischen Determinismus der Geschichte durch Technik; vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution.  Frankfurt a. M. 1984, S. 28-52; vgl. auch ebd., S. 65-67 den Abschnitt „Über technologische Entwicklung und ihren Rhythmus“.

[16]   Ebd.

[17] Ebd., S. 60.

[18] Zu der Unvermeidlichkeit und zu den Chancen solcher Perspektivität vgl. ebd., S. 70.

[19] Dies war eines der Ergebnisse der Diskussionen auf der Tagung „’Offen’ und ‚Verborgen’ Kulturelle Strategien zur Imagination von ‚Öffentlichkeit’ und ‚Privatheit’ in Mittelalter und Früher Neuzeit“ (International Max Planck Research School for the History and Transformation of Cultural and Political Values in Medieval and Modern Europe; MPI für Geschichte Göttingen); vgl dazu auch das Fazit des Tagungsberichts von Rebekka von Mallinckrodt: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=199.

[20] Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 140.

 

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