Ein Tagungsbericht von Timm Reimers (TU Berlin)
"Konzepte von Produktivität im Wandel" war die zweite Tagung des Arbeitskreises ARGUS: Brüche und Kontinuitäten vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit gewidmet, die vom 14. bis 17. März im Senatsraum der TU Berlin stattfand und von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert wurde. Der erst im 18. Jahrhundert gebildete Produktivitätsbegriff sollte in diesem Rahmen auf seinen heuristischen Wert zur Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher, materieller wie geistiger Schaffens- und Kreationsprozesse hinterfragt werden.
In ihrem Eröffnungsstatement wiesen die beiden Veranstalter, Corinna Laude (TU Berlin) und Gilbert Heß (Göttingen) auf die unfreiwillige Aktualität des Tagungsthemas hin: Produktivität' ist zu einem Schlüsselbegriff der an ökonomischen Wertmaßstäben ausgerichteten Moderne geworden, was unter anderem auch an der Wahl des Wortes "Entlassungsproduktivität" zum Unwort des Jahres 2005 ablesbar sei. Die Tagung entbehrte darüber hinaus auch insofern nicht einer gewissen Pikanterie, als die TU Berlin, in deren Räumen die Veranstaltung stattfand, sich dazu entschlossen hat, das (von der einen Tagungsorganisatorin vertretene) Fach Altgermanistik einzustellen und auch die anderen historisch-hermeneutischen Fächer der ehemals geisteswissenschaftlichen Fakultät auf ein langfristig kaum überlebensfähiges Maß zu reduzieren.
In seinem Eröffnungsvortrag stellte der Philosoph Andreas Urs Sommer (Greifswald)
den Skeptizismus als eine für die frühneuzeitliche geistige Produktivität
zentrale Grundlage vor. Ausgehend von Erasmus und Luther legte Sommer dar, daß
dem zeitgenössischen Verständnis nach ein grundsätzlicher Zweifel
an der gottgeschaffenen Welt zunächst fremd gewesen sei. Geistige Produktivität
sei insofern vorrangig als productio, weniger als creatio denkbar, die sich
insbesondere im Raum der Utopie entfaltet habe. Wie Sommer anhand von Thomas
Morus' "Utopia" darlegte, vollzieht sich der skeptizistische Verzicht
auf assertiones, auf begriffliche Festschreibungen, im speziellen Modus der
utopischen Fiktion. Durch diese nicht normative, sondern fiktional-spielerische
Anlage habe Morus' Skeptizismus nicht allein im Bereich des Politischen, vielmehr
auch im Bereich des Religiösen Spielräume für Pluralisierungstendenzen
geöffnet. Andere Verfasser utopischer Entwürfe (z.B. Campanella, Bacon)
hätten hingegen nicht die Möglichkeiten der Realpolitik in Frage gestellt,
sondern auf die rationale Realisierbarkeit des Idealen in Politik und Gesellschaft
vertraut. Dem bei Morus erkennbaren Kreativitätsschub, der durch konsequente
Fiktionalisierung und bewußte Verundeutlichung' initiiert sei, stehe
hier die konkrete politische Wirkabsicht gegenüber, neue Gewißheiten
zu generieren. Bei Johann Valentin Andreae wirke schließlich der heilige
Geist selbst als Initiativmoment, das Kreativität generiere, auf utopischen
Skeptizismus aber weitgehend verzichte.
Künstlerische Schaffensprozesse werden in Mittelalter und Früher Neuzeit
häufig als Emanation mythisch oder religiös bedingter Inspiration
(z.B. durch den Hl. Geist) legitimiert. Die strategischen Aspekte dieser Legitimitätsbehauptung
wie auch ihre produktiven Effekte nahmen verschiedene Beiträge der Tagung
in den Blick:
Anhand des mittelalterlichen "Tristan"-Romans von Gottfried von Straßburg
ging Beatrice Trinca (FU Berlin) der Frage nach, wie sich die Handwerksmetaphorik,
mit deren Hilfe im Mittelalter vielfach der Prozeß dichterischen Schaffens
umschrieben wird, und das mediävale Inspirationsparadigma, das Dichten
als göttliche Begabung begreift, zueinander verhalten: Bei Gottfried nähmen
nicht allein die (wunderbaren) Feen den Platz der antiken Musen als Inspirationsquellen
ein und firmierten somit als Fiktionalitätssignal und Instanz, die Dichtung
aus sich selbst heraus legitimiere. Vielmehr konzipiere Gottfried seinerseits
Dichtung als Textilie, verweigere aber gerade die Beschreibung von Textilien
(Tristans Ausstattung) und betone dadurch wiederum die Selbstkonstitution des
innertextuellen Gegenstandes.
Am Beispiel mittelalterlicher illuminierter Andachtsbücher verfolgte Gia
Toussaint (Hamburg) Aspekte religiöser Produktivität, die als mystische
Prozesse der Imagination wirksam werden, welche - durch Text- und Bildrezeption
im Inneren des Gläubigen ausgelöst - eine Transzendenzerfahrung ermöglichen.
Aus der Wechselwirkung von äußerem Bild und sprachlich vermittelter
Imagination in der contemplatio entstehe ein bildhaftes inneres Erlebnis, ein
mystisches Erfahrungsbild', das eine Grenzüberschreitung von Medium,
Raum und Zeit sowie einen unmittelbaren Kontakt zur transzendenten Bezugsperson
(z.B. Maria) ermögliche. Dieses Imaginatum habe seinerseits neue Illustrationstypen
hervorgebracht und sei somit auch künstlerisch produktiv geworden.
Martin Baisch (FU Berlin) führte in seinem Vortrag über Jörg
Wickrams "Irr reitenden Pilger" vor, wie das Dilemma humaner Zeitlichkeit,
das Paradox des gewissen und in seiner Stunde doch ungewissen Todes sich in
der Textproduktion selbst reflektiert. Den Text, der laut Vorrede in Todesnähe
verfaßt worden ist, untersuchte Baisch hinsichtlich seiner spezifischen
ästhetischen Struktur und stellte fest, daß dieses unterbewertete
Wickramsche Spätwerk durch Doppelungen und Rückgriffe (auch auf andere
Texte des Autors) geprägt sei. Dieses wiederholende Erzählen korrespondiere
mit seinem Thema, dem Tod, insofern einerseits die Wiederholungsstruktur Zeit
stillzustellen versuche und andererseits der Autor gerade im intertextuellen
Rekurs auf das eigene Werk sich selbst ermächtige', anstatt passiv
auf den Tod zu warten.
Daß Produktionsprozesse im Bereich von Dichtung und bildender Kunst auch
in der Vormoderne häufig im Werk selbst thematisiert werden, ging aus weiteren
Beiträgen der Tagung hervor.
Anläßlich der Frage nach dem Status des vormodernen Künstlers,
der weder als Handwerker noch mit dem neuzeitlichen Autonomiepostulat adäquat
zu beschreiben ist, untersuchte Heike Schlie (Köln) Jan van Eycks Bildnis
der Hl. Barbara (1437). Sie führte vor, daß hier eine bildimmanente,
selbstreflexive Kunsttheorie greifbar werde, die den Künstler im Sinne
des von Thomas von Aquin im Rückgriff auf Aristoteles entwickelten architector-Konzepts
entwerfe: Van Eyck nobilitiere den Künstler als denjenigen, der nicht nur
handwerklich ausführe (artifex), sondern Ursachen und Zusammenhänge
des Werkganzen kenne (architector). Überdies demonstriere der bemalte,
Marmor imitierende Rahmen des Bildes, daß der Maler sich von der Materie
unabhängig zu machen vermöge, in diesem Fall sogar selbst als Schöpfer
von Materie (creator) in Erscheinung trete. Dieses Andachtsbild diskutiere also
in erster Linie seinen eigenen Status als Artefakt und thematisiere insofern
den künstlerischen Produktionsprozeß selbst.
Michael Waltenberger (München) befaßte sich mit dem engen Zusammenhang
von sexueller und ökonomischer Produktivität im Handlungsgefüge
mittelalterlicher Kleinepik. In seiner Analyse der Schwankerzählung vom
"Schneekind" konnte Waltenberger zeigen, wie sich der von der Frau
eines Kaufmanns begangene Ehebruch, ihre "sexuelle Produktivität",
für den Betrogenen in einen (in den verschiedenen Fassungen verschieden
valorisierten) ökonomischen Gewinn umwandeln läßt: Der Kaufmann
verkauft das aus dem Ehebruch resultierende Schneekind zu einem hohen Preis.
Diese komplexe Relationierung von Sexualität und Ökonomie ginge in
jenem von der Forschung dem Schwank zugesprochenen agonalen (auf Revanche angelegten)
Strukturprinzip nicht auf. Vielmehr ließen sich schwankhafte Erzählungen
des Mittelalters und der Frühen Neuzeit auch als Texte lesen, denen zeitgenössisches
Populärwissen über ökonomische Zusammenhänge eingeschrieben
sei.
Tobias Bulang (Dresden) betonte anhand einer Analyse von Johann Fischarts "Geschichtklitterung",
daß Produktivität aus literaturwissenschaftlicher Sicht als Aktivierung
von "Potentialität" der Sprache aufgefaßt werden könne,
insofern man nach Ferdinand de Saussure davon ausgehe, daß die Sprache
eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten der Äußerung bereithält.
Fischarts von Wortneuschöpfungen überbordende Sprache konnte Bulang
vor dem Hintergrund dieses Modells in einem neuen Licht erscheinen lassen. In
Textpassagen über den Weinrausch und die Alchemie zeige sich Fischart ähnlichen
Prämissen verbunden, sodaß man sogar von einer "Wortalchemie"
sprechen könne, die Prinzipien des literarischen Produktionsprozesses transparent
werden lasse.
Mehrere Tagungsbeiträge widmeten sich den Folgen serieller Produktionsweise
in unterschiedlichen Epochen der Vormoderne.
So verfolgte Stefan Trinks (Berlin) das Phänomen der Massenproduktion am
Beispiel der Kirchenskulptur des spanischen Pilgerweges. Bereits im 11. Jahrhundert
sind dort in kürzester Zeit hunderte Kirchen errichtet worden, deren üppige
skulpturale Ausstattung in fließbandartiger Produktionsweise erfolgt sein
muß, während das Gebäude selbst noch im Bau war. Die Kapitell-Skulpturen,
so konnte Trinks zeigen, bedienen sich immer wieder einzelner Bildmotive eines
in der Region sich befindlichen antiken Sarkophags, auf dem der (dem Mittelalter
unbekannte) Orestes-Mythos dargestellt ist. Zwar wird sein Bildprogramm christlich
umgedeutet, doch zeugten die Kapitelle insgesamt von der Wertschätzung
kopierter Antike - auch als Möglichkeit, die Nachrangigkeit arabischer
Kunst zu demonstrieren. Serielle Produktion im großen Stil konnte hier
ohne einen Verlust an Aura, der gemeinhin als Charakteristikum industrieller
Produktion gilt, erfolgen.
Mit der Massenproduktion von Kunstwerken, wie sie ein halbes Jahrtausend später,
zu Beginn der Reformationsphase in der Cranachschen Werkstatt gefertigt wurden,
beschäftigte sich Susanne Wegmann (Leipzig). Die weitverbreiteten Luther-Bildnisse
der Werkstatt können neben der Flugschriften-Literatur als wichtiges Mittel
zur Popularisierung der neuen Glaubenslehre betrachtet werden. Auffällig
sei das negative Urteil, das die Kunstwissenschaft über die serielle Produktion
fällte. Was hier als Aufgabe künstlerischer Ambitionen gedeutet wurde,
erscheine im Urteil von Zeitgenossen als besonderer Vorzug: Schnelligkeit in
der Herstellung von Bildern bezeichnete eine ausgeprägte Gabe zur inventio
und habe demnach als eine Qualität der Werkstatt gegolten. Der auffällige
Medienwechsel vom Druck zur Malerei, den die Cranach-Werkstatt vollzog, erscheine
überdies als bewußtes Kalkül angesichts der Beständigkeit,
die der Malerei gegenüber dem Druck als besondere Qualität zugesprochen
wurde. Die serielle Produktion ließe sich als Normierungsprozeß
interpretieren, der festgelegte Luther-Bildtypen generiert habe, der jedoch
auch produktiv (für das protestantische Pfarrer- und Gelehrtenbild) geworden
sei.
Rationalisierungsprozesse standen auch im Mittelpunkt des Beitrages von Anja
Voeste (Ausgburg/Salzburg), die deren Auswirkungen auf die Orthographie untersuchte.
Anhand der Professionalisierung im Druckerhandwerk des 16. Jahrhunderts, die
sich vor allem als Abschaffung der aus der handschriftlichen Tradition zunächst
übernommenen Sonderzeichen vollzog, konnte Voeste den Paradigmenwechsel
von der mittelalterlichen Schreibvarianz zum Prinzip der Schemakonstanz (gleichbleibende
Schreibung eines Wortes auch bei phonographischer Variation) aufzeigen. Diese
Rationalisierung, die der beschleunigten Produktion geschuldet war, habe maßgeblich
das moderne, normativ-stereotypisierende Sprachbewußtsein geprägt;
das Variationsprinzip hingegen habe sich verschoben zum bis heute virulenten
lexikalischen Alternanzgebot.
Daß solche technischen Innovationen zwar als Katalysatoren zur Beschleunigung
von Produktionsprozessen gedient haben, in der Selbstwahrnehmung der Vormoderne
jedoch auch andere Faktoren für das Verständnis von inventio maßgeblich
gewesen sind, verdeutlichte Catherine Atkinson (Hannover). Mit Polydorus Vergilius'
Enzyklopädie "De inventoribus rerum" (1499) wurde von ihr die
einflußreichste Sammlung von inventiones des 16. Jahrhunderts vorgestellt.
Vergilius beschreibe Erfinder allgemein als Repräsentanten des kulturellen
Gedächtnisses und nicht, wie es die moderne Vorstellung von Erfindungen
nahelegt, als individuelle Neuerer in Technik und Wissenschaft. Er entwickele
einen Begriff der Erfindung, dem die prinzipielle Gleichwertigkeit der unterschiedlichen
Wissensgebiete, auch der traditionell nachgeordneten artes mechanicae, zugrunde
liege.
Vergilius' Enzyklopädie fungierte hingegen nicht nur als ein Speicher von
Wissen, sondern vielmehr als "Wissensmaschine" (H. Zedelmeier), die
durch die kombinatorische Reorganisation von loci communes selbst über
ein generatives Potential verfügt. Dies ging aus dem Referat von Karsten
Mackensen (HU Berlin) hervor, das sich Vergils Enzyklopädie am konkreten
Beispiel der Musik-Lemmata widmete. Die musica verliere bei Vergilius ihren
herkömmlichen Ort im Quadrivium und erscheine in einem neuen Kontext der
Kompositionslehre bzw. der praktischen Musikausübung. Hier deute sich bereits
ein Verständnis des musikalischen Kunstwerks an, das den Komponisten als
seinen Urheber begreift, jedoch erst im 18. Jahrhundert ausformuliert wird.
Die Produktion neuen Wissens kann, wie anhand dieses Beispiels nachdrücklich
deutlich wurde, schon durch die Disposition nahezu unveränderten Materials
initiiert werden.
Am Beispiel des Wolfenbütteler Stallmeisters und Berghauptmanns Georg Engelhard
von Löhneysen aus dem frühen 17. Jahrhundert stellte auch Claudius
Sittig (Freiburg i.B.) dar, daß Produktivität nicht zwangsläufig
genuin schöpferischer Leistung entsprungen sein muß. Löhneysen
plagiierte in prachtvoll ausgestatteten Folianten über die Reitkunst und
den Bergbau, die er in seiner eigenen Privatdruckerei aufwendig herstellen ließ,
zahlreiche Texte aus diesen Bereichen, legte aber großen Wert darauf,
als ihr geistiger Urheber zu gelten, wie sich anhand seiner erfolgreichen Bemühungen
um Privilegien und seiner Beschwerden über "räuberische Buchdrucker"
zeigen läßt. Sittig veranschaulichte anhand dieses Beispiels Interferenzen
zwischen soziokulturellen Rahmenbedingungen und Produktivität, da Löhneysen
stellvertretend für ein Konzept von adeliger Produktivität'
betrachtet werden könne, das sich nicht an einer Autorschaft im Sinne des
Erfindertums orientiere, sondern sich vielmehr auf Begriffe von Ruhm und Ehre
gründe.
In ähnlicher Weise wie dem Adel haftet auch Akademikern gemeinhin der Ruf
an, ein besonders unproduktives Dasein zu führen. Eine Grundlage für
dieses Klischee konnte Christoph Oliver Mayer (Dresden) unter anderem anhand
der literarischen Tätigkeit der Autoren Jean Chapelain und Claude Perrault
vorführen. Beide Autoren gelten in der Literaturgeschichte als besonders
unproduktiv. Wenig beachtet wird allerdings ihr Engagement an der Académie
française, wo sie maßgeblich an der kulturellen Theoriebildung
der Zeit beteiligt waren und dadurch ihre praktische Kunst vernachlässigten.
Die literarische Produktivität dieser Autoren verlagerte sich seit dem
Eintritt in die Académie von der Kunst auf theoriebildende Sekundärliteratur.
Mayer plädierte für einen erweiterten Begriff von Theorie, der ihrem
regulativen und produktiven Potential gerecht wird.
In der Autobiographie des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus
Sastrow, die dieser gegen Ende des 16. Jahrhunderts verfaßte, wird ebenfalls
ein alteritäres Konzept von Produktivität greifbar - in Gestalt eines
scheinbaren Paradoxons, wie Antje Wittstock (FU Berlin) in ihrem Vortrag verdeutlichte:
Sastrow schildert seinen Aufstieg vom einfachen Schreiber zum Bürgermeister
als ein Ergebnis von stetigem Arbeitseifer und Strebsamkeit, die durch sein
melancholisches Temperament befördert wurden. Die von Sastrow vorgenommene
Umdeutung der üblicherweise durch Krankheit und Trägheit charakterisierten
Melancholie sei für einen Bewußtseinswandel im Bereich der Temperamentenlehre
im 16. Jahrhundert repräsentativ. Sastrow beschreibe seinen Wandel vom
sinnlichen Sanguiniker zum asketischen Melancholiker gerade als Lebensleistung,
die sich im Spannungsfeld von göttlicher Gnade und Individualität
vollziehen konnte.
Fragen nach der Anwendbarkeit des Produktivitätsbegriffs auf das vorindustrielle
Handwerk standen im Zentrum der Überlegungen des Historikers Robert Brandt
(Frankfurt a.M). Er kritisierte dabei das von der älteren Forschung, insbesondere
von Werner Sombart postulierte und bis in die Gegenwart vorherrschende romantische'
Verständnis von vormoderner handwerklicher Tätigkeit. Anhand einer
quellenkritischen Lektüre unterschiedlicher Zeugnisse aus dem Frankfurter
Raum konnte Brandt zeigen, wie schwierig sich die Spurensuche nach einem mittelalterlichen
Verständnis von Arbeit gestaltet: Außerhalb des von der Kirche und
der städtischen Obrigkeit normierten Diskurses sind kaum aussagekräftige
Zeugnisse bekannt. Zur Revision der älteren Forschungsergebnisse schlug
Brandt Mikrostudien vor, die systematisch Semantiken, Praktiken und Mentalitäten
untersuchen, um schließlich neue Konzepte von Produktivität entwickeln
zu können.
Daß der Produktionsbegriff in unmittelbarem Konnex mit demjenigen der
Arbeit als produktiv-schöpferischem Akt gesehen werden müsse, wurde
in weiteren Referaten thematisiert. Anhand reichen Bildmaterials widmete sich
Tomislav Vignjevic (Ljubljana) dem Wandel bildlicher Ordo- und Ständevorstellungen
im 15./16. Jahrhundert. Er konstatierte eine zunehmende Ausdifferenzierung bildlicher
Repräsentationsformen des arbeitenden Nährstandes' (laboratores),
der zuvor durch die Figur des Bauern summarisch erfaßt worden sei, nunmehr
jedoch durch Bauern, Handwerker und Bürger präsentiert werde. Diese
Differenzierung verweise auf den Übergang der mittelalterlichen dreifunktionalen
ordo-Gesellschaft zur frühneuzeitlichen, politischen Dreiständegesellschaft
und spiegele letztlich eine zunehmende Differenzierung der Arbeit wider.
Auch im niederländischen Merkantilismus und im deutschsprachige Kameralismus
werden, wie Thomas Buchner (Linz) anhand des ökonomischen Diskurs des 17.
Jahrhunderts nachweisen konnte, unterschiedliche Konzepte von Arbeit greifbar.
Er verdeutlichte, daß die deutschsprachigen Autoren Arbeit nahezu ausschließlich
als Ressource zum Wohle des Gemeinwesens faßten, die durch ein Herrschaftszentrum
steuerbar sei. Arbeit erscheine hier als moralische Untertanenpflicht, deren
Inhalt oder Produkt von nachrangigem Interesse sei. Niederländische Autoren
hingegen, so Buchners Beobachtungen, verstünden Arbeit durchaus als Mittel
zur Befriedigung individueller Bedürfnisse, das keinerlei Einschränkung
unterliegen dürfe und dessen Realisierungsformen (Sklavenarbeit - Lohnarbeit)
differenziert bewertet worden seien.
Der Verlauf der Tagung und die im Anschluß an die Referate erfolgten Diskussionen haben gezeigt, daß der Produktivitätsbegriff gewinnbringend als heuristisches Instrument zur Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher, materieller wie geistiger Schaffens- und Kreationsprozesse eingesetzt werden kann, sofern die Bezeichnungen, welche Prozesse der Produktivität umschreiben (z.B. imitatio, variatio, aemulatio, inventio, productio, creatio), einer strikten Historisierung unterworfen werden. Sofern die Implikationen unterschiedlicher Fachterminologie im interdisziplinären Gespräch reflektiert werden, kann eine solche Analyse auch in Zukunft dazu dienen, Brüche und Kontinuitäten im Wandel vom Mittelalter in die frühen Neuzeit zu beleuchten, wie es sich der Arbeitskreis ARGUS zur Aufgabe gemacht hat.
Timm Reimers (TU Berlin)